Radar-Sensoren

Odometrie und Speed & Distance Unit

Interview mit Dr. rer. nat. Rainald Koch, Diplom Physiker
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Die genaue Positionierung von Schienenfahrzeugen ist die Voraussetzung für die höhere Auslastung der Strecke und spielt eine zentrale Rolle in der ETCS-Zugsicherung. Geschwindigkeit und Entfernung müssen auf SIL4-Niveau ermittelt werden. Das geht nur mit diversitären Sensoren und viel Know-How – das Fachgebiet heißt Odometrie. Die DRS05 Doppler-Radar-Sensoren sind mit 3 Mrd. Stunden die weltweit am meisten erprobten Radar-Sensoren und ein fester Bestandteil der Odometrie.
In dem Interview geben unsere Radar-Experten Antworten auf Fragen zu den Betriebsstunden und Einsatzbedingungen der Doppler-Radar-Sensoren als Teil der Odometrie. Sie erklären den Inhalt einer Speed & Distance Unit und erläutern die Vorteile dieser Bibliothek für den Kunden.

Starten wir unser Interview mit einer sagenhaften Rekordmarke: Die in den letzten 10 Jahren eingesetzten DRS05 Radar-Sensoren erreichten eine Betriebsstundenzahl von rund 3 Mrd. Stunden. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Weltrekord. Wie erreichen Sie diesen Höchstwert?

Dr. Rainald Koch:

Die DRS05 Radar-Sensoren basieren auf einer bewährten Technik und entsprechen höchsten Qualitätsansprüchen. Die Gehäuseform und die Gehäusedicke widerstehen Steinschlag auch bei Höchstgeschwindigkeit. Sie enthalten zwei Mikrowellenmodule, deren Signale ein patentierter Algorithmus kombiniert. Dies verbessert die Genauigkeit auf wechselnden Untergründen, während der Vergleich der parallel auch einzeln ausgewerteten Signale zur Sicherheit beiträgt. Fällt ein Mikrowellenmodul aus, oder die Antenne erhält schwächere Signalreflektionen, wechselt die Firmware in einen speziellen „Single-Mode-Algorithmus“, so steigt die Verfügbarkeit des Geschwindigkeitssignals.

Wie funktioniert eigentlich ein Doppler-Radar-Sensor?

Dr. Rainald Koch:

Ein Antennenmodul richtet eine kontinuierliche Mikrowelle fester Frequenz (24 GHz, 5 mW) schräg gegen den Untergrund, der die Welle idealerweise diffus streut. Die rückgestreute, durch die Bewegung frequenzverschobene Welle wird mit dem gesendeten Signal multipliziert, um das Doppler-Signal der Differenzfrequenzen zu bilden. Sein Spektrum enthält eine Linie, deren Position zur Geschwindigkeit proportional ist und deren Breite die Richtcharakteristik der Antenne widerspiegelt – idealerweise. Tatsächlich hat auch der Untergrund über die Winkelabhängigkeit der Rückstreuung Einfluss, beim DRS05 wie gesagt, nur minimal. Übrigens liefert jedes Antennenmodul wie ein zweikanaliger Inkrementalgeber ein Signalpaar für die Ermittlung der Fahrtrichtung (DOT).

Ist die Einbauposition des DRS05 unter dem Wagenkasten ebenfalls ausschlaggebend für die Langlebigkeit?

Dr. Rainald Koch:

Typischerweise positionieren wir zwei DRS05 Doppler-Radar-Sensoren unter dem Wagenkasten in der Nähe des Drehgestells – aber nicht am Drehgestell, denn die Vibrationen würden die Lebensdauer der Sensoren verkürzen.

Der DRS05 ist ein fester Bestandteil der ETCS-Odometrie. Welche Funktion hat die Odometrie im ETCS-System?

Dr. Rainald Koch:

Das Odometer ist typischerweise ein auf dem EVC ausgeführter Algorithmus (EVC = European Vital Computer, Kern einer ETCS-Bordausrüstung). Es soll sicher und hochverfügbar die Geschwindigkeit und die gefahrene Distanz aus mehreren Sensorsignalen lie-
fern, die einzeln unzulänglich sind. Und weil die Signale gleichartiger Sensoren oft gleichzeitig gestört sind, ist Sicherheit nur mit diversitären Sensoren zu erreichen.

Was ist der Vorteil des diversitären Messprinzips mit einem DRS05 Doppler-Radar-Sensor?

Dr. Rainald Koch:

Typische diversitäre Systeme setzen auf Achsgeber in Kombination mit unserem Doppler-Radar-Sensor DRS05 – ein gleichzeitig auftretendes grobes Vermessen von Radar-Sensor und Achsgebern gilt als unwahrscheinlich. Die auf Jahrzehnte stabile Präzision des DRS05 gestattet es, Raddurchmesser dynamisch zu kalibrieren. Sie ermöglicht es, auf Hochgeschwindigkeitsstrecken Balisenabstände zu vergrößern und erlaubt in Metros noch dichtere Zugzeiten. Zwar wird aktuell in einigen ETCS-Projekten versucht, nur über Achsgeber und eine alternative Sensorik Diversität herzustellen. Die Ergebnisse sind jedoch nicht wirklich zufriedenstellend: Im Vergleich zu optischen Sensoren ist Radar im K-Band unempfindlich gegenüber Verschmutzung; im Vergleich zur Satellitennavigation ist ein Radar-Sensor hochverfügbar auch in Häuserschluchten und Tunneln; und die Signale von Beschleunigungssensoren lassen sich wegen der Unsicherheit der Streckensteigung nicht ausreichend lang integrieren (Stichwort Querempfindlichkeit gegen die Erdbeschleunigung).

Warum hat DEUTA die Speed & Distance Unit Bibliothek entwickelt ?

Dr. Rainald Koch:

Die Motivation zur Entwicklung der SDU-Bibliothek zur Einbindung in Kunden-Software war es, Kunden zu helfen, optimalen Nutzen aus unseren Sensorprodukten zu ziehen. Die Odometrie ist kein leichtes Handwerk. Die Messunsicherheit der Signale ist mit weißem Rauschen nicht angemessen zu beschreiben, wenn das Ziel SIL4 heißt. Oft gibt es einen schmalen gaußverteilten Anteil, der bei größeren Abweichungen deren tatsächliche Häufigkeit weit unterschätzt. Ein gaußsches Fehlermodell würde bei zwei grob verschiedenen Messwerten ein mittleres Ergebnis liefern, das von beiden Messwerten deutlich verschieden ist. Es ist wahrscheinlicher, dass nur der eine oder der andere Messwert grob falsch ist – oder beide in der gleichen Richtung, z.B. bei Schlupfereignissen.


Zudem gibt es Korrelationen in der Zeit, also Fehlerzustände. Schließlich sind diagnostische Informationen zu berücksichtigen, die im Falle des DRS05 zum Teil schon vom Sensor geliefert werden. Im Allgemeinen sind diese aber ein Nebenprodukt der Odometrie, um die Kenntnis der jeweils anderen Sensorsignale ausnutzen zu können. Manche Vorschläge von Kunden für erweiterte Funktionalitäten des DRS05 stellten sich als Workaround für spezielle Situationen heraus, denen die Odometrie nicht gewachsen war.

Gaußsche Falle: Unter Annahme gaußscher Fehlermodelle (wie beim Unscented Kalman-Filter) würde selbst bei widersprüchlicher Information der Mittelwert verwendet.

Wie arbeitet so eine Odometrie?

Dr. Rainald Koch:

Stand der Technik im Bahnbereich waren Kalman-Filter, also Bayes-Schätzer für den Bewegungszustand des Zuges mit gaußschen Fehlermodellen für die Sensoren, in Verbindung mit verschiedenen Heuristiken für eine Auswahl der Sensorsignale. Das zeitliche Zusammenspiel ist schwer zu überblicken und mit jeder Ergänzung des Fehlermodells eines Sensors muss der ganze Algorithmus neu überdacht werden. Zudem wird die auszugebende Breite des Konfidenzintervalls a priori festgelegt, abhängig von der nach Anwendung der Heuristiken verbleibenden Sensorkonfiguration (Stichwort: degraded mode). Im Nachhinein, bei der Analyse von Aufzeichungen, ergibt sich meist, dass das Konfidenzintervall stellenweise zu klein, also unsicher war, stellenweise zu groß, also schlecht für die Performance

Wie funktioniert die DEUTA SDU und was sind die konkreten Vorteile?

Dr. Rainald Koch:

Die Heuristiken habe ich ersetzt durch eine Bayes'sche Behandlung auch der Ausreißer und Fehlerzustände. Indem ich die Fehlermodelle der Sensoren – ein oder zwei DRS05 und zwei mindestens zweikanalige Achsgeber – zu einem Input des Algorithmus erklärt habe, wurde dessen Richtigkeit mathematisch beweisbar, was den Safety Case enorm vereinfachte. Mit einem Bayes-Filter, der auch multimodale Wahrscheinlichkeitsverteilungen für die Geschwindigkeit und Beschleunigung des Zuges repräsentieren kann, gelang die situationsangepasste Berechnung des Konfidenzintervalls, das im Ergebnis meist enger ausfällt als mit einer herkömmlichen Odometrie und doch sicherer ist.

Performance der DEUTA SDU

Beweisbar sicher, obwohl Sie die Fehlermodelle der Sensoren ausklammern?

Dr. Rainald Koch:

Nicht obwohl, sondern weil. Diese Aufteilung bringt Klarheit in die Verantwortlichkeiten sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Begutachtung. Prof. Frese von der Universität Bremen, Experte für Bayessche Probabilistik, hat meinen Algorithmus geprüft und für korrekt befunden, sowohl die Spezifikation (Prosa und Formelsprache) als auch die Implementation in C, aber die Fehlermodelle kann er nur plausibilisieren, nicht quantitativ bestätigen. Dies kann auch der TÜV Nord nicht, der den Entwicklungsprozess hinsichtlich Einhaltung der Norm EN 50128 auf SIL4 begutachtet hat. Für den DRS05 stammt das Fehlermodell aus unserer fast zwanzigjährigen Erfahrung. Der Tester für die SDU ist unser Entwickler der DRS05-Firmware. Wir haben eine erhebliche Menge Referenzdaten aus unterschiedlichsten Projekten gesammelt. Damit haben wir den statistischen Testgenerator gefüttert, gegen den die SDU über zehntausende Kilometer Blackbox-getestet wurde. Bezüglich des Fehlermodells für die Achsgeber (dominiert vom Verhalten von Gleitschutz und ggf. Traktionskontrolle) sind sowohl die SDU als auch der Testgenerator konfigurierbar. Die Beweislast bleibt beim Kunden gegenüber seinem Gutachter. Allerdings ist es für beide einfacher zu zu sehen, dass die generierten Signalverläufe dem realen Verhalten entsprechen, als für eine eigene Odometrie zu demonstrieren, dass deren Heuristiken das Schlupfverhalten abdecken. Ein Kunde hat diesen Schritt bereits hinter sich; der Gutachter (Certifer) war beeindruckt.

Sie erwähnten diagnostische Informationen als Nebenprodukt.

Dr. Rainald Koch:

Ja, einige Beispiele bezüglich der Achsgeber:



  • Die SDU liefert in jedem Zyklus (konfigurierbar zwischen 200 und 400 ms) für jeden gemessenen Radsatz, ob Adhäsion wahrscheinlich ist – Verwendung: Low-Adhesion-Warnung an nachfolgende Züge, Überwachung der Fahrweise der Triebfahrzeugführer, Statistik über die Performance der Traktionskontrolle zwecks Optimierung (engstes sicheres Konfidenzintervall).
  • Sinusförmiger Wobbel in Achsgebersignalen entsteht durch exzentrische Montage (mit ungeeigneten Kupplungen). Die Eingangsfilter der SDU korrigieren das adaptiv. Abfallprodukt ist die Wobbelamplitude und -phase. Ändert sich diese bei Lastwechseln grob, ist das Spiel im Radlager zu groß.
  • DOT-Fehler ohne Zählfehler weisen auf Spiel im Lager des Gebers hin, Klirren im Signal auf Verschleiß der Kupplung.
  • Eine sich langsam entwickelnde Diskrepanz zwischen den Gebern und den Radaren ist Abnutzung der Raddurchmesser, ein Sprung dagegen womöglich ein Eingabefehler.
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Odometrie und Speed Distance Unit